Papier trägt nicht nur Worte

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Sarah stand wie jeden Tag im Schaufenster ihres kleinen Ladens, das Nadelkissen an der Hüfte und in farbenfrohe Stoffbahnen gewickelt, überlegt sie, wie man den neusten Geschenkideen wohl den passenden Raum geben könnte. Wenn sie so darüber nachdachte, was ihr immer wieder einen wohligen Schauer über den Rücken trieb, lächelte sie leise und stellte sich vor, sie könnte einfach im Fenster stehen bleiben und all die kleinen Kostbarkeiten den Menschen, die vorüber gingen, hinhalten.

Auf diese Idee hatte sie erst vor ein paar Tagen einer ihrer liebsten Stammkunden gebracht. „Warum bleiben sie nicht einfach so stehen und lächeln“, hatte er ihr tonlos durch die in die Jahre gekommene Scheibe diese Worte geformt. Sie musste lachen, denn wer würde im Laden stehen, wenn er wie immer um 8 Uhr am Morgen seine Pforten öffnete? Während sie tiefer in ihre Gedanken hinabtauchte, begann sie, kleine Podeste und Glastische zu arrangieren, wickelte sich aus den herrlichen Stoffen und steckte sie weich fallend um die kleinen Tische. „So ein kleiner Laden und so viel Schaufenster“, dachte sie, während sie sich durch die winzige Öffnung zurück in den Laden quetschte, um die neuen Spieluhren hervorzuzaubern. Verträumt stellte sie eine von ihnen an und lauschte der Musik. „Schön wenn man sich mit Dingen umgeben kann, die man selbst so sehr liebt“, waren ihre Gedanken, als die schrille Türglocke den ersten Kunden dieses Tages ankündigte. Sarah empfand bei diesem Ton immer eine gewisse Vorfreude, denn ihr Laden befand sich zwar inmitten der Stadt, doch die Menschen die ihn liebten, lebten wie auf dem Dorf in direkter Nähe.

Während sie noch darüber nachdachte, wer es wohl sein könnte, stieß ein kräftiger Windstoß die Tür auf und ein langes schwarzes Bein ließ Sarah wissend in sich hinein lächeln. Die Spieluhr noch immer in der Armbeuge, hielt Sarah die Tür auf und ließ den geheimnisvollen Gast und seine Besitzerin eintreten. Prompt wehte das zweite Bein zur Tür herein, gefolgt von einem großen gelben Körper, der ebenso Kopf war. Ein breites Grinsen zierte wie immer sein überdimensionales Gesicht. Sein geschundener Körper war über und über mit Pflastern bedeckt. „Er bewegt sich leicht wie eine Feder“, ging es Sarah durch den Kopf, als sein kleines Papierhändchen sachte ihren Arm streifte. „Als wolle er mich begrüßen“, durchfuhr es sie, als sie ihm instinktiv zur Begrüßung den Kopf tätschelte. Während sie noch die Spieluhr zur Seite stellte, sah sie auf und der Besitzerin dieses herrlichen Wesens direkt in die großen traurigen Augen. „Frau B., welch trauriges Gesicht, kommen sie erst einmal herein“, schob sie die gefühlt 2m große Dame mit ihren Worten in den Laden, während der muntere Gesell, vom letzten Luftzug gestreift, freudig auf und ab hüpfte. Frau B. aber klammerte sich ängstlich an das kleine Papierhändchen und legte den Arm um ihren Schützling. „Sie müssen ihm helfen“, stieß sie hervor.

Dieser Satz war die Einleitung zu einem alt bekannten Ritual, dass sich nun schon seit mehr als einem halben Jahr in regelmäßigen Abständen wiederholte. Damals stand Frau Baptiste noch mitten im Leben. Sie war Lehrerin und lebte ihren Beruf mit Herzblut. Sie lebte allein und irgendwann, als sie schon eine Weile in Pension war, begann sich ihre Geschichte unmerklich zu verändern. Sie war eine sehr treue Kundin und hatte immer wieder kleine Schätze aus Sarahs Laden herausgetragen, irgendwann aber veränderte sich die Art ihrer Besuche. Sie hatte Sarah einiges aus ihrem Leben erzählt und so erzählte sie ihr damals auch, dass leider das Vergessen sie eingeholt hatte. Von Woche zu Woche trugen sich immer merkwürdigere Geschichten zu. So stand die alte Dame schließlich eines Tages da und meinte, dass zwar ihre Schwester auf sie achten würde, sie sich aber so schrecklich alleine fühlte. Sie sprach von Angst, die sich immer wieder unbemerkt an sie heran schlich, nur um sie zu erschrecken. „Ich spüre das Vergessen und es tut so unendlich weh“, lies sie Sarah mit traurigen Augen wissen.

Zu der Zeit hatte Sarah gerade die kleinen Wesen entdeckt und in den Laden gebracht. Mit Helium gefüllt, liefen sie auf ihren Papierfüßchen zwischen den Regalen spazieren. Das kleine Gelbe sprang damals direkt auf Frau B. zu, die ihn zuerst kritisch beäugte, aber dann zu lächeln begann. Sarah fragte sofort, ob nicht dieser Geselle vielleicht ein guter Begleiter wäre. „Er kann sogar böse Träume fernhalten“ sagte Sarah aus einem Gefühl heraus. Frau B. dachte eine Weile nach, dann wollte sie sich auch schon nicht mehr von dem kleinen Kerl trennen. „Ja, Du sollst mit mir gehen, kleiner Mann“, lächelte sie schließlich und packte ihn auf den Kassentisch, wo er artig die Beinchen baumeln ließ, während Frau B. 50 Pfennig auf die Theke legte. Sarah sah auf und meinte:“ Entschuldigen sie Frau B., aber der kleine Mann kostet 12 Mark.“ Nie mehr hatte Sarah den Blick vergessen, der ihr dann entgegen flog. „Aber da liegen doch 50 Mark“, schlug die plötzlich sehr wütende Stimme von Frau B. zurück. Sarah spürte die aufkommende Panik und wusste, noch ein weiterer Versuch, würde Tränen hervorbringen, die sie nicht mehr versiegen lassen konnte. Vermutlich hatte Frau B. schon kein eigenes Geld mehr und der Weg in den Laden war nur noch ein Ritual, das ihr helfen sollte, ihre Ängste zu besiegen. So nahm Sarah die 50 Pfennig und entschuldigte sich bei Frau B. für den Irrtum, während diese für den Moment von Glück beseelt mit dem kleinen Mann den Heimweg antrat.

Doch schon am nächsten Morgen stand Frau B. wieder vor der Tür, den kleinen Körper mit den schlaksigen Beinen auf dem Arm. „Sarah, er braucht Hilfe, er kann nicht mehr hüpfen und schlurft nur noch lustlos seiner Wege.“ „Warten sie einen Moment, Frau B., ich nehme ihn mit ins Behandlungszimmer“, mit diesen Worten verschwand Sarah mit ihrem Schützling in den hinteren Räumen des Ladens. Vorsichtig untersuchte sie den Patienten und fand die Stelle an dem ihm immer wieder die Luft ausging. Ein buntes Kinderpflaster und eine Ladung Helium später, konnte Frau B., der man die Erleichterung ansah, ihren Traumbändiger wieder mit nach Hause nehmen. Viele Pflaster, Heliumladungen und den ein oder anderen Ersatzballon später, Frau B. hatte nie bemerkt, wenn Sarah den Kleinen, wenn keine Operation mehr half, ersetzte, kam Frau B. plötzlich nicht mehr.

Nach einigen Tagen machte sich Sarah Sorgen und fragte die Schwester der alten Dame, die gerade über die Straße ging, nach deren Verbleib. „Ich musste sie in ein Heim geben, sie war völlig orientierungslos und ich konnte nicht 24 Stunden auf sie achten.“ „Hat sie ihren kleinen Freund mitnehmen können?“ fragte Sarah nach. „Ohne ihn wollte sie nicht gehen“, lächelte die Schwester mit leeren Augen. „Sie war der Meinung, er vertreibe ihre bösen Träume. Verrückt, nicht wahr, Sarah?“ „Es ist nicht verrückt, wenn es hilft“, gab Sarah zurück. „Ich mache ihnen ein Angebot, wann immer der kleine Mann einen Arzt braucht, und solange Frau B. ihn bei sich haben mag, bringen sie ihn zu mir. „Ich wünsche mir nur, dass er da ist, wenn sie nach ihm ruft und ihn braucht.“ Die Schwester bedankte sich, denn auch sie hatte längst seinen Wert im Leben von Frau B. erkannt.

So gingen die Wochen dahin, als eines Tages die Schwester den Laden mit dem kleinen Mann an der Hand erneut betrat. „Ich wusste nicht, was ich mit ihm machen soll. Verrückt, aber er hat schon fast menschliche Züge. Meine Schwester ist gestorben, aber ich konnte ihn nicht einfach da lassen, “ brach es aus ihr heraus. Sarah sah den kleinen Mann an und setze ihn, als die Schwester gegangen war, auf die Theke. „Du hast mehr geleistet, als mancher Mensch jemals in seinem Leben zustande bringt. Schön, dass Du wieder nach Hause gefunden hast.“ Lächelnd sah Sarah, wie er fröhlich mit Armen und Beinen wackelte, stellte eine ihrer Spieluhren an und schickte Frau B. noch ein paar angstfreie und glückliche Gedanken hinterher, bevor sie wieder in ihren Schaufenstern verschwand.

 

2 Gedanken zu „Papier trägt nicht nur Worte

    • Liebe Silvia, herzlichen Dank für Deine Gedanken. Diese Geschichte fällt in die Kategorie, das Leben selbst schreibt oft die Geschichten vor, man muss sie nur aufschreiben. Schon viele Jahre her, mir aber bis heute in Erinnerung geblieben. LG San

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