Die Mantelträgerin

Affettuoso
Klaviatur des Lebens
Mano sinistra
Risentito Zeloso
Afflicone Adagio

Der Punk in mir

Totgesagt komme ich mit wachen Augen auf die Welt.
Drei Generationen freuen sich.
Über den Irrtum und meine Ankunft.
Mein Name verleiht mir Leben.
Die alte Dame, die ihn vorschlägt,
stirbt als ich ankomme.
Ich werde geliebt.
Grießbrei von der Urgroßmutter.
Geheimnisvolles Yoga mit der Großmutter.
Liebevolles Pink und Erziehung von meiner Mutter.
Abenteuer mit meinem Vater.
Also wachse ich.
Singe im Chor, spiele Klavier, reite Pferde, tanze Ballett.
Und viel zu selten aus der Reihe.
Ich trage schwarze Mähne ohne Pony, dafür Mittelscheitel.
Ich liebe schwarz und rot.
Stattdessen trage ich Pink und habe Migräne.
Ich spiele nicht mehr Klavier,
meine Mutter weint.
Meine Urgroßmutter fällt die Treppe herunter vor meine Füße.
Ich bin zu klein und darf nicht Abschied nehmen.
Ich zeichne Köpfe und Augen.
Heimlich verstecke ich Kochtöpfe im Gartenhäuschen.
Hier leben meine geretteten Raupen,
bis meine Oma sie entdeckt.
Den Spatz in der Hand und die Taube finde und pflege ich.
Mein Vater taucht mit mir ab und zeigt mir die Welt.
Ich habe Sonnenbrand,
schlafe auf dem Boot.
Loch Ness ist sehr dunkel
und Nessi nicht da.
Mein Vater reitet die Wellen
mit dem Hausboot.
Meine Oma fängt die Töpfe samt Inhalt.
Ich werfe die Ballettschuhe über Bord.
Bekomme keine Schlümpfe mehr,
aber einen Tennisschläger.
Ich schlage mich ganz gut.
Spiel, Satz und mancher Sieg.
Meine Eltern verlieren sich gerade.
Schule langweilt mich.
Menschen finde ich spannend.
Ich trage viele Ohrringe.
Noch mehr Armreifen.
Und kein Pink mehr.
Ich trage Schwarz.
Und zeichne Köpfe und Augen.
Schweigend gehe ich mit meiner Oma
ins Kloster und mache den Löwen.
Herrlich still hier.
Ich tanze Samba
mit Leidenschaft.
Sitze auf Felsen.
Meeresrauschende Ruhe und Musik.
Ich wachse ab jetzt nur noch in mir.
Ich ziehe aus und ein.
Und lerne aus der Reihe zu tanzen.
Abitur klappt, alle sind beruhigt.
Ich arbeite viel.
Der dritte Freund bleibt
bis mein Mann kommt.
Meine Eltern lassen sich scheiden.
Wir heiraten.
Mein Mann bleibt bis mein Sohn kommt.
Die Tage sind lang.
Das Leben ist spannend.
Ich baue einen Pool, das Seepferdchen ruft.
Meine Mutter trägt noch immer Pink,
Horst an ihrer Seite bringt neue Töne mit,
sie tragen uns weiter.
Karlchen ist ein Engel,
repariert das alte Auto,
baut die Antenne aufs Dach,
vertreibt die Sorgen.
Und treibt mich an.
Karlchen wird vertrieben und wir weinen.
Er ist sehr krank, wir sind da.
Ich habe meinen Sohn an der Hand.
Wir nehmen Abschied.
Wir sind im Glaspalast ohne Pool gefangen.
Der erste Stein bricht Seele und Glas.
Wir flüchten.
Ich bin Krebs, mein Vater hat Krebs.
Ich gehe mit ihm diesen letzten Weg.
Eine Flaschenpost später schaue ich ihm nach.
Er hat mir mein Glück geschenkt,
das mich bis heute begleitet.
Meine Oma ist 83.
Sie lehrt noch immer den Löwen.
Dann vergisst sie ihn.
Der Honig ist nicht auf dem Brot.
Drei Generationen und mein Glück
begleiten sie viele Jahre.
Bringen ihr immer wieder das Leben mit.
Dann vergisst ihr Herz zu schlagen.
Wir bringen sie zu meinem Vater.
Der Pfarrer schaut mit großen Augen,
Enzian für die letzte Reise ist ihm neu.
Uns tat es gut.
Wieder Silvester.
Wir feiern.
Er fällt um wie ein Baum.
Wir fangen meine Freundin,
halten sie und ihre Söhne.
Ihn tragen wir zu seinem Baum.
Ihre Trauer vergeht nicht.
Ihre Depression findet sie.
Und schubst uns aus ihrem Leben.
Heute haben wir den Faden wieder aufgenommen.
Vielleicht können wir gemeinsam weiter
an ihrem Glück spinnen.
Der Nonno meines Sohnes ist einsam.
Er sucht sein Leben und seine Kinder.
Wir sind da.
Hoffend, dass sie nach Hause finden.
Mein Glück bleibt.
Innen wachse ich weiter.
Die Panther schnurren.
Mein Sohn wird erwachsen
und macht Abitur.
Wir reden über das Leben.
Menschen interessieren mich.
Ich bin ein bunter Hund und trage Schwarz.
Und zeichne Köpfe und Augen.
Auf den Film am Ende meines Lebens bin ich gespannt.
Den blauen Irokesen hebe ich mir für später auf.
Bis dahin schreibt der Punk in mir.

19 Gedanken zu „Die Mantelträgerin

  1. Die Mantelträgerin … ich sehe den Mantel nicht … versteckst du den Mantel ? Oder ist er mehr so innerlich und deckt so manches zu ? Wie auch immer … es hat mir Freude bereitet , diese doch recht eigen – sinnige Biografie zu lesen !
    Ich glaube , hier komme ich mal öfters vorbei 😀
    Hab einen schönen Tag !

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  2. „The main interest in life and work is to become someone else that you were not in the beginning. If you knew when you began a book what you would say at the end, do you think you would have the courage to write it? What is true for writing and for love relationship is true also for live. The game is worthwhile insofar as we don’t know what will be the end. “
    (Michel Foucault, French Philosopher)
    Danke für dein Schreiben, leider habe ich dieses Zitat nur in Englisch, wenn ich Zeit finde, will ich es übersetzen!

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    • Danke für die mitgebrachten Gedanken. Gerne kannst Du den Text auch in der Übersetzung vorbei bringen. Ich kann ihn aber auch auf englisch lesen und verstehen und ich mag ihn sehr.

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  3. Was für eine Lebensgeschichte und so unwahrscheinlich anschaulich geschrieben. Ich könnte fast fühlen, dass ich dabei war. War ich aber nicht bzw. nur ein minimal mikroskopisch kleines bisschen in den letzten Jahren.

    Und trotz aller trauriger Erlebnisse strahlt ein helles Licht aus vom schwarz ummantelten heimlichen Punk. Herzlichen Dank für diesen Beitrag!

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    • Freut mich sehr, dass Dir mein bisheriges Lebensfilmchen gefällt. Ich gehe ja schon davon aus, dass sich hier noch ein paar Kapitel anschließen werden. Schön, wenn Du weiterhin durch Dein Mikroskop mit dabei bist.

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