
Urgroßmutter und Urenkel
Gedanken an den Zahn der Zeit
Ich blicke in den Spiegel und er strahlt mich an. Schon vor ein paar Jahren habe ich ihn wahrgenommen. Ignoriert? Ja, vielleicht, aber nie bekämpft.
Da ist er nun, zeigt sein wahres Gesicht, ist näher an mich heran gerückt und in mich hinein gekrochen. Er selbst, strahlend weiß, zeichnet und formt mir mit Feuereifer mein Leben ins Gesicht und auf die Hände. Erstes Grau fließt in das altbekannte Schwarz meiner Haare. Das Leben läuft, ich packe ihn am Hals und schüttele ihn. Er lacht laut auf und greift nach seinem Pinsel. Ich halte inne, spüre einen kurzen Schmerz, packe ihn an der Wurzel und setze ihn zurück an den ihm angedachten Platz, an seine Staffelei, seine Töpferscheibe. Er lächelt milde, schmiegt sich in meine Kindheit und Jugend, läuft gereift durch meine Jahrzehnte, lässt sich immer neu inspirieren. Dann taucht er wieder ab und werkelt im Verborgenen weiter an seinem Kunstwerk. Kurz spüre ich den Schmerz, den er in sich trägt. Durch so viel Leben zu gehen, kann bedrücken.
Dankbar bin ich ihm heute, denn mit seiner Unterstützung zeigt sich meine Lebenskarte der Welt. Sachte hat er mir einst als er seine Arbeit begann, Lachfalten um meine Augen gemalt. Die habe ich geliebt als ich sie entdeckte. Die Stirnfalte, an der er schon so lange sitzt, liegt ihm besonders am Herzen, so korrigiert er sie immer wieder und aus einer Furche werden langsam zwei, und irgendwann werden sie sich zu einem Dach schließen, und wenn der Zahn irgendwann sein Werk beendet hat und mein Leben es zulässt, mit einem weiteren finalen Strich verziert, ein A auf meine Stirn schreiben. Dies ist die Lebenslinie, die schon meine Großmutter trug, und die ich gerne mit erhobenem Haupt weiter tragen werde. Wie könnte ich sie nicht lieben?
Nur einmal nahm ich mir vor, dem Zahn in sein Tun hineinzureden. Leider hat er mich nicht erhört, als ich versucht habe, einen Pakt mit ihm zu schließen. Ich bat ihn damals: „Wenn ich genügend Grund zum fröhlichen Lächeln und Lachen fände, möge er mir doch bitte nur nach oben strebende Falten schenken. Wie naiv von mir, wie könnte er mir diesen Wunsch erfüllen. Welches Leben trägt nicht seine Schattenseiten, die das Lächeln erfrieren und das Lachen tonlos werden lassen in sich. Der Zahn als realistischer Künstler, kann nur malen, was er sieht, nicht was er sehen möchte.
Schon immer habe ich gerne Gesichter und Hände betrachtet, die mir ihre Geschichten erzählen. Die Freude an diesen Kunstwerken habe ich für mich nie verloren, und nun verwandle auch ich mich langsam. Der Gedanke gefällt mir gut.
Ich werde meinem Zahn nicht ins Handwerk pfuschen, denn für mich ist er es, der das Leben, das ich bisher gelebt habe, abbildet. Dank ihm kann ich meiner Vergangenheit schon heute ins Auge blicken.
Den Tod will ich nicht verlachen. Ihm zulächeln vielleicht, wenn eines Tages der Zahn der Zeit ausfällt.