Die Seele der Bücher

Sie lebte mit sich und für ihre Familie. Oft genug trug sie den Ballast, den andere einfach achtlos abwarfen mit einer stoischen Ruhe, als würde sie lediglich eine Feder in die Luft pusten. Schon früh begann sie, sich in Bücher zu verlieben. Je mehr sie von ihnen las, desto freudiger räumte sie Ecken In ihrem Leben frei, um noch mehr dieser wunderschönen Seelen bei sich zu haben.

Kein Tag verging, an dem sie nicht wenigstens Eines aufschlug und darin stöberte. Überall im Haus lagen sie griffbereit. An manchen Tagen las sie in der Küche einen Roman, im Wohnzimmer ein paar Gedichte, um dann im Arbeitszimmer eine Biografie zu verschlingen. Selten merkte sie sich alles was sie las. Oft waren die Titel ihr schon wieder unbekannt, wenn sie den Deckel des Buches zuklappte. Doch die Gefühle die sie beim Lesen auf herrliche Weise überkamen, ließen sie die Bücher katalogisieren. Kein Außenstehender konnte das System dahinter erkennen und sie würde einen Teufel tun ihr Geheimnis zu verraten.

So vergingen die Jahre, ihre Kinder waren längst in der ganzen Welt verstreut und im letzten Jahr, war ihr Mann unverhofft gestorben. Sie nun schon 80 Jahre alt, strahlte aber eine undefinierbare Zufriedenheit aus, die die Menschen in ihrem Umfeld dazu brachte, zu überlegen wie sie das machte. „Das kann doch nicht sein“, dachten die Leute, die sie nur selten aus dem Haus gehen sahen. Gelegentlich sah man sie auf dem Markt, wie sie sich Zeit nahm auszuwählen welche der Köstlichkeiten es wert war, in ihrer Küche zubereitet zu werden. Noch immer war das Kochen eine ihrer Leidenschaften. Die Katzen, die wie sie in die Jahre gekommen waren, thronten dabei wie jeden Tag auf dem Fenstersims und beobachteten genau, wie sie Gemüse und Fleisch liebevoll anrichtete und nur sie alleine hatten eine Ahnung davon, warum die Frau so zufrieden war.

Ich war dabei und durfte nicht nur die Katzen, nein auch die Frau erleben und weil ich nicht so verschwiegen bin, wie ihre Tiere, teile ich das Geheimnis mit Euch, während vor meinem geistigen Auge, die ihren noch einmal in meine Augen blicken. Ihre vom Alter gezeichneten Hände mir ein paar ihrer Seelen als Geschenk übergeben und ich bewundernd ihren stolzen Gang und all die liebevollen kleinen Gesten noch einmal spüre. Sie hatte ihr Leben angenommen, es gelebt und sich immer darauf gefreut, irgendwann viel Zeit für ihre Bücher zu haben.

Für sie waren diese Bücher gefüllt mit den Seelen derer, die sie geschrieben hatten. Sie wollte noch so viele Seelen erfahren, Gedanken aufnehmen, Geschichten miterleben. Ihr Abenteuer Leben aber neigte sich dem Ende und so füllte sie jede Nische ihres Seins mit Menschen, die für sie niedergeschrieben hatten, was sie von sich und ihrer Welt preisgeben wollten. „Ich war nie alleine in meinem Leben“, lächelte sie mich damals an. Menschen waren immer um mich und viele brachten mir Bücher mit, von denen sie dachten, dass ich sie lieben könnte.“ „Nun endlich habe ich die Zeit, mich mit ihnen ausgiebig zu beschäftigen und seit ein paar Monaten fange ich an, einige meiner Seelen zu verschenken, damit ich sie in guten Händen und Herzen weiß, wenn ich gehe.“

Ich halte heute ihr Geschenk an mich in Händen und erwische mich dabei, wie ich immer öfter ihre Seele in den Büchern suche, die nun mein Leben teilen und hier einen ganz besonderen Platz eingenommen haben.

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